Grafik mit verschiedenen Strichmännchen, die mit einer Lupe genau betrachtet werden und dann entweder ein Häkchen oder ein X bekommen

Die Sozialauswahl - Regeln verstehen, Handlungsspielräume nutzen

Wer die Kriterien und Gestaltungsspielräume bei der Sozialauswahl gut kennt, vermeidet Klagen und behält gleichzeitig das Heft des Handelns in der Hand.


Ein Hersteller von Aluminiumgussteilen spricht im Rahmen eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung allen Beschäftigten eine betriebsbedingte Kündigung aus. Alle Mitarbeitende bis auf das Abwicklungsteam werden freigestellt. Dennoch kommt es zu einer Kündigungsschutzklage – mit Erfolg. Wie kann das sein?

Der Grund war wie so oft ein Fehler in der Sozialauswahl: Der Arbeitgeber hatte die Vergleichsgruppe falsch gebildet [1]. Da in dieser Phase zahlreiche Fallstricke lauern, sollten Sie die Sozialauswahl gut vorbereiten, um sie unfallfrei durchzuführen. Denn Entlassungen gehören ja ohnehin schon zu den unangenehmsten Aspekten des Personalwesen. Unterboten werden sie aber wohl noch davon, Entscheidungen von Arbeitsgerichten revidiert zu bekommen.

Von daher gilt: Wenn man die Spielregeln kennt, bietet der gesetzliche Rahmen sogar mehr Gestaltungsraum, als auf den ersten Blick anzunehmen ist.

Aus gutem Grund: Interessenausgleich mittels Sozialauswahl

Die Sozialauswahl wurde eingeführt, damit Arbeitgeber ihre Organisation weiterentwickeln können und zugleich die Rechte der Arbeitnehmer gewahrt bleiben, entsprechend ihrer persönlichen Situation und ihrer Chancen am Arbeitsmarkt behandelt zu werden. Betriebsbedingte Kündigungen ziehen zwangsläufig immer dann eine Sozialauswahl nach sich, wenn vier Kriterien erfüllt sind:

  1. Die Mitarbeitenden fallen unter das Kündigungsschutzgesetz: Sie arbeiten länger als sechs Monate im Unternehmen und dieses hat mehr als zehn Mitarbeitende.
  2. Es handelt sich um eine ordentliche Kündigung. Liegen im Einzelfall Gründe für eine außerordentliche Kündigung vor, muss der entsprechende Arbeitnehmer nicht in die Sozialauswahl einbezogen werden.
  3. Die Kündigung wird aus dringenden betriebsbedingten Gründen
  4. Die Zahl der Kündigungskandidaten übersteigt die Anzahl der wegfallenden Arbeitsplätze.

Welche Mitarbeitenden beziehen Sie ein?

Wenn die Filiale am Rand der Stadt nicht läuft oder wegen einer Sortimentsumstellung eine Produktionslinie wegfällt, hilft oftmals nur die betriebsbedingte Kündigung. Allerdings können Sie nicht einfach die Mitarbeitenden, die Sie an Standort X oder in Abteilung Y nicht mehr beschäftigen, entlassen. Vielmehr müssen Sie alle vergleichbaren Arbeitnehmer in die Sozialauswahl einbeziehen. Vergleichbarkeit ist dann gegeben, wenn der eine Mitarbeitende den Job des anderen, ggf. nach kurzer Einarbeitungszeit, ausführen könnte. Hier zählt nicht nur die aktuelle Position, sondern auch frühere Kenntnisse, Berufsausbildung, die gleiche Berufsgruppe etc. So können auch Personen hinzugezogen werden, die mit dem zu schließenden Standort erstmal nichts zu tun haben, oder derzeit eine Tätigkeit ausüben, die eigentlich nicht direkt von der Umstrukturierung betroffen ist, wenn sie in ihrem Verträgen auch entsprechende Regelungen haben, die eine Versetzung an den zu schließenden Standort, bzw. auf die abzubauende Stelle, theoretisch ermöglichen würde.

Das alles wird allerdings nur "horizontal" gemacht (bezogen auf die Hierarchie-Ebenen). Also wenn Sie beispielsweise die Situation Ihrer Außendienstmitarbeitenden miteinander vergleichen, lassen Sie die Vertriebsleiterin außen vor. Weder muss sie mit in die Auswahl, nur weil einer der Mitarbeitenden, die gekündigt werden sollen, mit ihrem Profil "vergleichbar" wäre. Noch wäre es umgekehrt der Fall, wenn die Führungsebene verschlankt werden soll. Die "Vergleichbarkeit" endet eben bei der Hierarchie.

Sozialauswahl gilt nur für den Betrieb

Zu beachten ist ein weiterer Aspekt bei der Vergleichbarkeit. Es geht um das kleine Wörtchen „Betrieb“. Damit ist die technisch-organisatorische Einheit gemeint, in der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tätig sind. Er folgt „einem wirtschaftlichen Ziel, ist wirtschaftlich jedoch unselbstständig“ [2] Auch Fabriken und Werke sind Betriebe. Sie gehören zu einem Unternehmen als rechtlicher Einheit.

Was bedeutet das für die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung? Besteht ein Unternehmen aus mehreren Betrieben, bezieht sich die Sozialauswahl nur auf den betroffenen Betrieb, nicht auf das Unternehmen. Sie sind also nicht verpflichtet, einen Arbeitsplatz in einem anderen Betrieb anzubieten, wenn Sie einen Standort schließen, verkleinern oder umstrukturieren. Es sei denn, es handelt sich um Betriebsstätten wie unsere weiter oben erwähnten Filialen. Betriebsstätten wie Zweigniederlassungen, Werkstätten und Verkaufsstellen gehören zu einem Betrieb und stellen lediglich räumliche Einheiten dar. Daher müssen Sie die Mitarbeitenden aller Betriebsstätten, die zu einem Betrieb gehören, für die Sozialauswahl berücksichtigen.

Wenig Aussicht auf Erfolg: Klage wegen allgemeiner Versetzungsklausel

Arbeitnehmer beziehen sich in Kündigungsschutzklagen mitunter auf das betriebsübergreifende Versetzungsrecht. Der Gedanke dahinter: Wenn der Arbeitgeber seine Mitarbeitenden zwischen verschiedenen Betrieben versetzen kann, muss er im Umkehrschluss die Mitarbeitenden anderer Betriebe auch in die Sozialauswahl einbeziehen. Verschiedene Landesarbeitsgerichte konnten der Argumentation folgen, doch nach einer Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2005 „führt eine unternehmensweite Versetzungsklausel grundsätzlich nicht zu einer unternehmensweit durchzuführenden Sozialauswahl.“ [4]

Sozialauswahl: auf diese Kriterien kommt es an

Die Sozialauswahl soll sicherstellen, dass die Mitarbeitenden gekündigt werden, die am wenigsten schutzbedürftig sind. Doch wie „messen“ Sie eigentlich die Schutzbedürftigkeit von Kündigungskandidaten? Dafür hat der Gesetzgeber vier Kriterien definiert, die Sie berücksichtigen müssen:

  1. Je länger jemand bei Ihnen angestellt ist, desto schwieriger ist er zu kündigen. Dabei wird auch die Kündigungsfrist in die Dauer der Betriebszugehörigkeit eingerechnet: Sind zwei Mitarbeitende seit fünf Jahren im Betrieb, würde die Mitarbeiterin mit der sechsmonatigen Kündigungsfrist bleiben dürfen, während die mit nur drei Monaten im Vertrag gehen muss.
  2. Ältere Mitarbeitende genießen gegenüber jüngeren einen Kündigungsschutz.
  3. Auch die Anzahl der Kinder wird einbezogen: Unterhaltspflichten gelten als Schutzfaktor.
  4. Eine Schwerbehinderung, also ein Grad der Behinderung von mindestens 50, ist ebenfalls zu berücksichtigen.

Die Sozialauswahl bietet Gestaltungsspielraum

Betriebszugehörigkeit, Alter, Familiensituation, Behinderung: Was fangen Sie nun mit den Informationen an, die Sie über Ihre Mitarbeitenden zusammengetragen haben? Wie gewichten Sie die Kriterien? Die schlechte Nachricht: Dazu gibt es weder eine Faustformel noch ein festgelegtes System. Die gute Nachricht: Da Unternehmen selbst entscheiden können, wie sie die Kriterien gewichten, gewinnen Sie Gestaltungsspielraum.

Punktesystem als Mittel der Wahl

Geht es um eine größere Zahl von Arbeitnehmern, nutzen Personaler in der Regel ein Punktesystem. Binden Sie bei der Festlegung den Betriebsrat ein, denn das System ist mitbestimmungspflichtig. Haben Sie sich einmal auf ein System geeinigt, sind Sie auf der sicheren Seite, wenn Sie es konsequent anwenden. Arbeitsgerichte schreiten nur ein, wenn sie massive Fehler bei der Bewertung feststellen. „Sie ist grob fehlerhaft, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt, wenn also einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt wurden.“ [4]

Macht die Sozialauswahl die Belegschaft alt?

Die Sozialauswahl soll Personen schützen, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht sind. Doch darüber, wer schlechter- und wer bessergestellt ist, wird gestritten. Vor allem das Alterskriterium sorgt immer wieder für Diskussionen. Erhalten ältere Arbeitnehmer von vornherein mehr Punkte, wittern die Jüngeren Altersdiskriminierung. Da die gesetzlichen Vorgaben aber nicht geändert wurden, hatten entsprechende Kündigungsschutzklagen bisher wenig Aussicht auf Erfolg.

Aber: Wer in absehbarer Zeit das Rentenalter erreicht, kann sehr wohl gekündigt werden, da er über ein gesichertes Einkommen verfügt. Das hat das BAG in einem Urteil vom Dezember 2022 festgestellt. Es „misst dem Kriterium ‚Lebensalter‘ bei der Bestimmung der sozialen Schutzbedürftigkeit keine linear steigende Bedeutung, sondern eine relative Bedeutung nach Lebensphase bei“. [5]. Für Arbeitgeber ist das eine sehr gute Nachricht, denn es erhöht ihren Handlungsspielraum bei der Sozialauswahl.

Wenn Sie viele betriebsbedingte Kündigungen aussprechen müssen, hat Ihnen der Gesetzgeber das Mittel der Altersgruppen an die Hand gegeben, damit das Alterskriterium nicht zu einer Überalterung der Belegschaft führt. Sie können die Mitarbeitenden beispielsweise nach Lebensjahrzehnten zusammenfassen. Dann wird die zweite Ziffer des Alters wichtig: Der 39-jährige Kollege ist schutzbedürftiger als die 32-jährige Arbeitnehmerin, während die 45-Jährige vor dem 49-Jährigen das Nachsehen hat. Was auf den ersten Blick absurd wirkt, dient der „Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes“ (§ 1 Abs.3 Satz 2 KSchG). Nutzen Sie diesen starken Hebel, um die Leistungsfähigkeit der Belegschaft zu stärken.

Wie wirken sich Voll- und Teilzeitbeschäftigungen aus?

Wenn betriebsbedingte Kündigungen lediglich darauf abzielen, das Arbeitsvolumen zu verringern, werden Voll- und Teilzeitkräfte gleichbehandelt. „Liegt hingegen ein nachvollziehbares unternehmerisches Konzept zur Arbeitszeitgestaltung vor, nach dem bestimmte Tätigkeiten bestimmten Arbeitszeiten zugeordnet worden sind, hat dies zur Folge, dass Arbeitnehmer, die aufgrund solcher Organisationsentscheidungen unterschiedliche Arbeitszeiten aufweisen, die nur durch eine Änderungskündigung angepasst werden können, nicht miteinander vergleichbar sind.“ [6]

Unterhält ein Unternehmen beispielsweise mehrere Betriebsstätten und entscheidet aus Kostengründen, die Aufgaben des in Teilzeit beschäftigten Hausmeisters einem externen Dienstleister zu übertragen, muss ihm kein Stelle als Vollzeitgebäudemanager an einer anderen Betriebsstätte angeboten werden.

Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen – Top-Performer halten

Lassen sich betriebsbedingte Kündigungen nicht vermeiden, wäre es fatal, wenn der junge Top-Vertriebler, das ledige IT-Genie oder die beliebte und erfolgreiche Abteilungsleiterin das Unternehmen verlassen müssten. Auch hier hat der Gesetzgeber vorgebeugt: Mitarbeitende können in Einzelfällen wegen besonderer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen aus der Sozialauswahl herausgenommen werden. Hier gilt der Leitsatz, „dass der Arbeitgeber das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers gegen das betriebliche Interesse an der Herausnahme des Leistungsträgers abwägen muss“ [7]. Je schutzbedürftiger die anderen horizontal vergleichbaren Kündigungskandidaten sind, desto genauer müssen Sie begründen, weshalb Sie ausgerechnet auf Kollegen Yılmaz oder Kollegin Schmidt unmöglich verzichten können.

Fazit

Die Sozialauswahl ist im Interesse aller. Denn wenn Unternehmen sich in großem Stil von Mitarbeitenden trennen, müssen die ausscheidenden und die bleibenden Betriebsangehörigen die Entscheidung nachvollziehen können. So wirken Sie Kündigungsklagen und Reputationsverlust entgegen und sichern sich die Loyalität Ihrer Belegschaft. Dabei ist die Sozialauswahl zwar kein Buch mit sieben Siegeln, aber doch so komplex, dass Sie sich juristisch beraten lassen sollten. Dann können Sie sich die Spielräume zunutze machen, die die Sozialauswahl bietet. Je besser Sie dabei mit der Arbeitnehmervertretung kooperieren, desto stabiler wird das Unternehmen nach den Kündigungen dastehen. Sich organisatorisch zukunftsfähig aufzustellen und der sozialen Verantwortung gerecht zu werden, muss dann kein Widerspruch sein.

Mehr zum Thema:

Gepackter Umzugskarton im Büro

Rechtliche Grundlagen bei Entlassungen

Kündigungen stellen HR vor große Herausforderungen. Wie man trotz emotionaler Belastung rechtssicher navigiert, erklärt Rechtsanwältin Livia Merla

Hören und lesen Sie mehr zum Thema