Origami Schwan der fliegt

Kreativität als Job-Skill: Sachen mal krass anders machen

Ohne Kreativität keine Ingenieurskunst. Der Technologiekonzern Siemens fördert Kreativität systematisch. Tobias Eismann im Gespräch. 

 

Über unseren Interview-Gast

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Tobias Eismann

Tobias Eismann ist Ingenieur, Gründer, TEDx-Redner und leidenschaftlicher Kreativitätsforscher. Immer auf der Suche nach der nächsten Gelegenheit für kreative Veränderungen, unterrichtet er Studierende, schreibt Artikel, moderiert einen Podcast und unterstützt Unternehmen bei der Gestaltung moderner Arbeitsumgebungen, die Kreativität und Innovation ermöglichen. Bei Siemens gründete er das Creative Lab, um das Technologieunternehmen noch zukunftsfähiger zu machen.

Kreativität hilft uns, Herausforderungen im Leben, im Beruf und in der Teamarbeit zu meistern – und man kann sie erlernen. Bei Siemens gibt es dafür ein Creative Lab. Doch was ist Kreativität eigentlich? Weshalb gewinnt sie als Skill von Mitarbeitenden an Bedeutung? Und wie wurde Tobias Eismann zum Treiber von mehr Kreativität bei Siemens?

Unternehmen benötigen Mitarbeitende mit unterschiedlichen Skills. Weshalb hängen Sie die Kreativität so hoch, Herr Eismann?

Die internationale Organisation „Weltwirtschaftsforum“ hat unlängst ein Video  veröffentlicht. Es erklärt, weshalb Kreativität und kognitive Flexibilität wichtiger sind als der IQ, um unsere Zukunft zu gestalten. Im letzten „Future of Job Report“ landete Kreativität bei den Top Skills hinter analytischem Denken auf Platz zwei – man geht zudem von einer weiter steigenden Bedeutung aus. Wenn unser Unternehmensbereich „People & Organization“ analysiert, wie sich Jobprofile ändern und was die Jobs der Zukunft sind, stoßen die Kolleginnen und Kollegen immer wieder auf Kreativität als Kernkompetenz.

Mit dem Creative Lab bei Siemens treiben Sie das Thema. Bei den Personalerinnen und Personalern rennen Sie sicher offene Türen ein.

Ganz so ist es leider nicht. Als ich im Jahr 2020 bei Siemens anfing, einen neuen Ansatz zur Förderung der Kreativität zu etablieren, musste ich im gesamten Unternehmen Überzeugungsarbeit leisten. Die größten Fans des Themas Kreativität kommen aus den technischen Bereichen, wo es darum geht, Innovationen voranzutreiben. Ich beobachte in der gesamten Industrie, dass HR die Relevanz des Themas noch nicht vollständig auf dem Schirm hat.

 

Immerhin sind Sie als Kreativer bei einem Technologiegiganten gelandet und konnten das Creative Lab aufbauen. Würden Sie uns erzählen, wie es dazu kam?

Über persönliche Kontakte lernte ich den technologischen Leiter einer Geschäftseinheit kennen. Er erzählte, dass seine Einheit unfassbar erfolgreich sei – heute. Er wusste aber, dass sich das Geschäft in naher Zukunft komplett verändert. Entsprechend hoch ist der Bedarf an Innovationen. Er bot mir an, mich bei Siemens um Kreativität als Voraussetzung für innovatives Handeln zu kümmern. Auch damals gab es schon viele Ideen, aber wenig radikale, zukunftsweisende. Der Grund dafür ist, dass die Mitarbeitenden zwar in Methoden und Kreativitätstechniken geschult waren, aber Kreativität nicht als Fähigkeit verstanden haben, die man trainieren muss, um langfristig effektiver und effizienter zu sein. Als Kreativitätsforscher wusste ich gefühlt alles über das Thema, aber nun wurde mir schlagartig bewusst, wie schwer der Transfer von der Wissenschaft zum strategischen Kreativitätsmanagement in einem Unternehmen ist. Ich begann, mit Menschen zu sprechen. Anfangs bestand die größte Hürde darin, überhaupt ernstgenommen zu werden. Etwa ein Jahr lang lief ich nur herum und versuchte, Geschichten zu erzählen, Leute mitzunehmen und zu überzeugen, indem ich ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellte.

Mit welcher Botschaft konnten Sie die Mitarbeitenden erreichen und auch abholen?

Ich musste in den Gesprächen erst einmal mit den gängigsten Herangehensweisen ans Kreativsein aufräumen. Dazu gehört klarzustellen, dass ein eintägiger Workshop niemanden zu einem kreativen Menschen macht. Vielmehr braucht es eine Journey, die sich mindestens über mehrere Tage bis Wochen erstreckt. Wie das Gehirn funktioniert und wie wir aktuell oftmals arbeiten, passt schlecht zusammen. Ideen entstehen auch zu einem großen Anteil im Unbewussten. Sie brauchen eine gewisse Inkubationszeit. Während wir über etwas nachdenken, beschäftigen wir uns auch unbewusst mit dem Thema. Deshalb fallen uns Lösungen manchmal unter der Dusche und nicht am Schreibtisch ein.

Ich ermutigte die Leute, ihre aktuellen Verhaltensweisen und Routinen zu reflektieren, an neue Themen einfach mal anders heranzugehen und zeigte auf, wo unsere Grenzen liegen, wo wir uns normalerweise selbst blockieren, kreativ zu sein. Die Ingenieure bei Siemens waren zunächst skeptisch. Schließlich sind Fortschritte in Kreativität schlecht in KPIs zu erfassen. Die Effekte lassen sich schwer greifen. Im Laufe der Zeit gelang es mir durch Bottom-up-verhaltensbasierte Ansätze zunehmend, die Mitarbeitenden dazu zu ermutigen, mehr Zeit für das Thema Kreativität zu investieren und ihre Fähigkeiten zur Entwicklung neuer Ideen zu trainieren. Schritt für Schritt wandten sie sich von selbst an mich, da sie einem starken Innovationsdruck ausgesetzt waren. Für jeden Hype wie zum Beispiel Generative Künstliche Intelligenz braucht man Kreativität.

Ideen entstehen auch zu einem großen Anteil im Unbewussten. [...] Deshalb fallen uns Lösungen manchmal unter der Dusche und nicht am Schreibtisch ein.

Tobias Eismann

Woran erkennen Sie, dass Ihre Arbeit Früchte trägt?

Wir merken im gesamten Unternehmen, dass die Mitarbeitenden kreativ viel kompetenter werden. Sie treten dem Management gegenüber deutlich mutiger auf und machen Sachen auch mal krass anders. Auch in frühen Phasen von Kundenprojekten zur Fabrikautomatisierung nutzen wir alternative Formen der Zusammenarbeit. Den Kolleginnen und Kollegen fällt es zunehmend leichter, sich in unbekanntes Terrain zu bewegen, wo die fertige Lösung noch nicht feststeht und man einfach darauf hinarbeitet. Auch, weil sie verstehen, dass der Schlüssel zu guten neuen Lösungen nicht nur in der Technologie steckt, sondern auch im Verständnis von Kundenbedürfnissen und neuen Antworten, die sich mehr am Menschen orientieren als am Gesamtprozess.

Sie kommen aus der Forschung. Wie würden Sie Kreativität definieren?

Als menschliche Fähigkeit, etwas Neues und gleichzeitig Nützliches zu schaffen. Das Schaffen ist also kein Selbstzweck, sondern muss im Unternehmenskontext einen Vorteil bringen. Aus Neurowissenschaft, Sozialforschung und Psychologie wissen wir, dass Kreativität viel weniger noch als Intelligenz von den Genen bestimmt wird. Es ist ein erlernbares Verhalten, das durch verschiedene Subverhalten geprägt wird, so wie eine Choreografie aus bestimmten, erlernbaren Tanzschritten besteht.

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Wie können wir Kreativität lernen oder üben?

Zu den Subverhalten zählt das Stellen von Fragen. Ich gebe dazu gerne eine Reflexionsaufgabe an die Hand: „Wenn du das nächste Mal in einem Meeting bist, notiere alle Fragen, die du stellst und die die anderen stellen. Dann gehe die Fragen durch und frage dich, welchen Effekt sie haben oder hatten: Nimm allein offene versus geschlossene Fragen. Wie wirkten sie sich auf das Meeting aus? Wie bringen sie das Projekt voran?“ Je nachdem, welche Fragen man wie stellt, kommen andere Lösungen heraus und desto mehr oder weniger sprudeln die Ideen der Anderen.

Ein weiteres wichtiges Verhalten ist das Aufbrechen von bestehenden Mustern: Unboxing. Eine Übung die dabei hilft, nennt sich „Reverse Assumptions“. Dazu listen wir alle Grundannahmen zu einer Aufgabe auf, die wir im Team lösen wollen. Erste Erkenntnis: Die Grundannahmen liegen meist weit auseinander. Schon allein indem wir sie explizit machen und in Frage stellen oder umkehren, gehen wir die Aufgabe kreativer an. Wir betrachten Alternativen, die wir sonst implizit ausgeschlossen hätten, weil wir sie als nicht relevant betrachten. Wenn ich Teilnehmende eines Workshops zum Beispiel bitte, das Auto der Zukunft zu zeichnen, verleihen sie ihm vielleicht Flügel oder ersetzen die Reifen durch einen Kettenantrieb, sie nehmen das Grunddesign „Auto“ aber als gegeben hin. Erst durch Bewusstmachen der Grundannahmen gelangen wir zur dahinterliegenden Frage, wie wir uns fortbewegen wollen, wodurch dann zum Beispiel das Muster „Auto“ plötzlich zur Disposition steht. Indem wir den Problemraum betreten, also den Rahmen wechseln, können ganz neue Lösungen entstehen.

Was möchten Sie uns abschließend mit auf den Weg geben?

Ganz wichtig ist mir, dass Unternehmen nicht bei der reinen Anwendung von Kreativitätstechniken stehenbleiben sollten: Denn wirkliche Kreativität entsteht nicht in einem singulären Workshop, sondern dem Ausüben von kreativen Verhaltensweisen im Alltag, wann immer es gefragt ist. Im Creative Lab bei Siemens versuchen wir, kreative Menschen zu verstehen. Daraus leiten wir Methoden und Strukturen ab, die weniger kreativen Menschen helfen, sich in Richtung des Verhaltens kreativer Personen weiterzuentwickeln.
Und das können wir alle. Als Menschen lieben wir Muster. Je älter wir werden, desto starrsinniger werden wir, weil mit der Neuroplastizität die Fähigkeit abnimmt, Muster zu ändern. Doch diesen biologischen Trend können wir verzögern. Schon kleine Änderungen, wie etwa die Zahnbürste morgens in die andere Hand zu nehmen, bewirken etwas. Alles, was wir anders machen oder neu anfangen, stärkt unsere kreative Kompetenz. Wie beim Training für einen Marathon müssen wir dranbleiben. Denn man kann schließlich auch nicht laufen, nachdem man dreieinhalb Tage wie verrückt gerannt ist. Techniken und Methoden helfen beim Training. Wie die Stützräder am Fahrrad sollten sie über kurz oder lang überflüssig werden. Dann sind wir wirklich kreativ unterwegs.

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